Der alte Einsiedler Sebastian betete regelmässig in einer kleinen Wallfahrtskapelle, abgeschieden auf einem Hügel. Hier verehrte er ein Kruzifix, das den bedeutungsvollen Namen „Herr der Gnade“ trug. Die Menschen aus dem ganzen Dorf kamen hierher, um sich Segen und Hilfe zu erflehen.
Eines Tages beschloss der alte Sebastian, auch um Segen zu bitten. Er kniete nieder vor dem Bild und betete: „Herr, ich will mit dir leiden. Lass mich deinen Platz einnehmen. Ich will am Kreuz hängen.“
Dann schwieg er, richtete seinen Blick fest auf das Kreuz und wartete auf eine Antwort.
Ganz plötzlich bewegte das Kruzifix seine Lippen und sagte: „Mein Freund, ich akzeptiere deinen Wunsch, allerdings unter einer Bedingung: Was auch geschehen mag, was du von da oben sehen wirst, du musst immer schweigen.“
„Ich verspreche es, Herr.“
Also wechselten sie ihre Plätze. Keiner der Gläubigen merkte, dass nun Sebastian ans Kreuz genagelt war, während der Herr den Platz von Sebastian eingenommen hatte. Die Andächtigen zogen weiterhin vorbei, flehten um Gnade und Sebastian hielt sein Versprechen und schwieg. Bis eines Tages ...
... ein reicher Mann auftauchte. Nachdem er gebetet hatte, vergass er auf der Stufe seine Börse voller Goldmünzen. Sebastian sah das, doch er blieb still. Er sprach auch nicht, als eine Stunde später ein armer Mann eintrat, der sprachlos vor so viel Glück, die Börse nahm und wegging. Er öffnete noch immer seinen Mund nicht, als ein junger Mann kam, der seinen Schutz erbat, bevor er ein lange Seereise antreten würde. Doch er konnte nicht mehr widerstehen, als er sah, wie der reiche Mann eilig zurückkehrte und, weil er dachte, der junge Mann hätte ihm die Geldbörse gestohlen, mit lauter Stimme schrie, um die Polizei zu rufen und den Mann einsperren zu lassen. Jetzt hörte man einen Schrei: „Halt!“
Erstaunt blickten alle nach oben und stellten fest, dass das Kruzifix geschrien hatte. Sebastian erklärte, wie die Dinge gelaufen waren. Der Reiche eilte davon, um den Armen zu suchen. Der Junge ging eilig weg, um seine Reise nicht zu verpassen. Als niemand mehr in der Kapelle war, wandte sich Christus an Sebastian und tadelte ihn:
„Steig sofort vom Kreuz. Du bist nicht würdig, meinen Platz einzunehmen. Du konntest nicht schweigen.“
„Aber Herr“, protestierte Sebastian verwirrt, „hätte ich denn diese Ungerechtigkeit zulassen sollen?“
„Du weisst nicht“, antwortete der Herr, „dass es für den Reichen besser war, seine Geldbörse zu verlieren, weil er mit diesem Geld ein grosses Unrecht begehen wollte. Der Arme hingegen hatte grossen Bedarf an diesem Geld. Und wenn der Junge von der Polizei festgehalten worden wäre, hätte er sein Schiff verpasst und damit sein Leben gerettet, denn gerade in diesem Moment sinkt das Schiff auf hoher See.“