In einer eisigen Nacht fand ein buddhistischer Lama an einer Türschwelle ein Mäuschen, das starr und halbtot vor Kälte war. Der Lama hob das Mäuschen auf, päppelte es auf und bat es, ihm Gesellschaft zu leisten. Von diesem Augenblick an, war das Leben des Mäuschen sehr angenehm. Doch trotz allem schien das Tierchen nicht glücklich zu sein. Der Lama fragte besorgt: „Was hast du denn, kleiner Freund?“
„Du bist sehr gut zu mir. Und alles in deinem Haus ist sehr gut mit mir. Aber da ist die Katze ...“
Der Lama lächelte. Er hatte nicht an die Hauskatze gedacht, ein Tier, das zu weise und zu gut genährt war, um sich auf Mäusejagd herabzulassen.
Der Lama rief: „Aber dieser schöne Kater will dir bestimmt nichts Böses, lieber Freund! Niemals würde er einem Mäuschen etwas antun! Du hast nichts zu befürchten, das versichere ich dir.“
„Ich glaube dir ja, aber er ist stärker als ich“, wimmerte das Mäuschen. Ich fürchte mich sehr vor der Katze. Deine Macht ist gross. Verwandle mich in eine Katze! So habe ich keine Angst mehr vor diesem schrecklichen Biest.“
Der Lama schüttelte den Kopf. Es schien ihm keine gute Idee ... Aber das Mäuschen flehte ihn an, also sagte er: „Dein Wunsch sei dir erfüllt, kleiner Freund.“ Und augenblicklich verwandelte sich das Mäuschen in eine dicke Katze.
Als die Nacht verging und der Tag anbrach, trat eine ansehnliche Katze aus der Kammer des Lama. Doch sobald sie die Hauskatze sah, machte die Mäuschen-Katze rechtsumkehrt und rannte Schutz suchend in die Kammer des Lama, wo sie sich unter dem Bett verkroch.
„Was ist denn passiert, kleiner Freund?“, fragte der Lama überrascht. „Du hast doch nicht etwa immer noch Angst vor der Katze?“
Die Mäuschen-Katze schämte sich sehr und flehte: „Bitte verwandle mich in einen Hund, in einen grossen Hund mit scharfen Reisszähnen, der laut bellt ...“
„Wenn du das wünschst, dann tue ich dir den Gefallen und so sei es!“
Als der Tag verging und man die Öllampen anzündete, schritt ein grosser schwarzer Hund aus der Kammer des Lama. Der Hund ging bis zur Haustüre und begegnete der Katze, die aus der Küche trat. Die Katze kippte fast um vor Schreck beim Anblick des Hundes. Doch der Hund hatte noch mehr Angst. Er winselte kläglich und rannte Schutz suchend in die Kammer des Lama. Der Weise betrachtete den zitternden Hund und sagte: „Was ist denn passiert, kleiner Freund? Bist du einem anderen Hund begegnet?“
Der Mäuschen-Hund schämte sich zu Tode. Er bat: „Verwandle mich in einen Tiger, bitte, in einen mächtigen, fürchterlichen Tiger!“
Der Lama erfüllte ihm den Wunsch und am nächsten Tag trat ein gewaltiger Tiger mit wilden Augen aus der Kammer des Lama. Der Tiger streifte durch das ganze Haus und erschreckte alle, dann trat er in den Garten und begegnete der Katze, die aus der Küche kam. Sobald sie den Tiger erblickte, machte die Katze zu Tode erschrocken einen Sprung, kletterte auf einen Baum, schloss die Augen und sagte: „Ich bin eine tote Katze!“
Doch der Tiger miaute kläglich, als er die Katze sah, und flüchtete noch schneller als sie, um in einer Ecke der Kammer des Lama Schutz zu suchen.
„Welchem entsetzlichen Tier bist du denn begegnet?“, fragte der Lama.
„Ich ... ich fürchte mich ... vor ... der Katze!“, stammelte der Tiger, der noch immer zitterte.
Der Lama platzte fast vor Lachen. „Jetzt verstehst du, kleiner Freund“, erklärte er. „Das Äussere ist nichts! Äusserlich hast du das schreckliche Aussehen eines Tigers, doch du fürchtest dich vor der Katze, weil dein Herz das eines Mäuschens geblieben ist.“
Quelle: Bruno Ferrero, Qumran2
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