Ein schöner Tag, nicht wahr?

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Der Tag hatte schon schlecht begonnen und schien noch schlimmer zu enden. Wie immer war der Bus überfüllt. Während ich so in alle Richtungen geschüttelt wurde, wuchs meine Traurigkeit noch an. Da hörte ich eine tiefe Stimme aus dem vorderen Teil des Busses: „Ein schöner Tag, nicht wahr?“

Wegen der vielen Leute konnte ich den Mann nicht sehen, aber ich hörte ihn, wie er die frühlingshafte Landschaft beschrieb und unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenkte, an denen wir vorbeifuhren: die Kirche, den Park, den Friedhof, das Feuerwehrgebäude. Schon bald schauten alle Fahrgäste nach links und nach rechts aus den Fenstern des Busses hinaus. Die Begeisterung war so ansteckend, dass ich zum ersten Mal an diesem Tag lächelte.

Wir erreichten meine Haltestelle. Mit Mühe zwängte ich mich zur Türe, um auszusteigen. Dabei warf einen Blick auf unseren Reiseführer: einen behäbiger Mann mit schwarzem Bart, einer Sonnenbrille und mit einem weissen Stock in der Hand.
Er war blind.

Ich stieg aus dem Bus und plötzlich war meine Anspannung verschwunden. Ein Blinder hatte mir geholfen zu sehen. Zu sehen, dass, obwohl die Dinge manchmal schlecht laufen, auch wenn alles dunkel und traurig erscheint, die Welt ihre Schönheit weiterhin beibehält. Eine Melodie summend stieg ich die Stufen zu meiner Wohnung hoch. Ich konnte es kaum erwarten, meine Familie mit den Worten zu begrüssen: „Ein schöner Tag, nicht wahr?“

Patrizia Traverso, Qumran2
Bild: Pixabay, tpsdave