Die Lehrerin

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Äusserlich ist sie eine Frau wie andere auch. Manchmal ist es ein Mann, dann ist er ein Lehrer. Die Lehrerin ist gekleidet wie eine Lehrerin, also bequem, so dass sie einem Kind im Schulhof nachlaufen oder sich im Kreis zu den Kindern auf den Boden setzen kann und vor allem, um damit Tränen und andere Produkte, die von kleinen Augen und Nasen grosszügig ausgeschieden werden, aufzunehmen.

 

So ist die Lehrerin, wenn sie Kinder hat. Die Kinder werden zu Schülerinnen und Schülern, wenn die Lehrerin da ist; versehentlich wird sie hin und wieder Mama genannt. Niemand weiss, weshalb ein Lehrer nicht auch Papa genannt wird.

Es gibt blonde Lehrerinnen, schwarze, sogar rothaarige und solche mit Sommersprossen; manche Haare sind gelockt, andere gerade, wieder andere sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Aber alle Lehrerinnen haben eine hohe, laute und klare Stimme. Die Stimme der Lehrerin senkt sich, wenn sie eine Geschichte erzählt oder wenn sie Spannung erzeugen will. Wenn die Lehrerin jedoch schreit, dann ist mit ihr nicht gut Kirschen essen.

Die Lehrerin gibt den Kindern weiter, was sie weiss. Wenn du ins Innere einer Lehrerin schaust, siehst du darin Einmaleinsreihen, den Satz des Pythagoras, die Neunerprobe, die Habsburger, Romulus und Remus, den Konjunktiv, den Erlkönig und den kleinen Prinzen.

Wenn alles gut läuft, lernen die Kinder die Dinge, die die Lehrerin weiss und sie behält diese Dinge weiterhin in sich drin. Kein Komma geht unterwegs verloren, kein Adjektiv und kein Pronomen. Eine Lehrerin kann durch zwanzig oder auch durch achtundzwanzig Schüler geteilt werden und es gibt trotzdem jederzeit genug Wissen für alle.

Wenn die Lehrerin dir alles beigebracht hat, was sie dich lehren musste, wird sie die Lehrerin von anderen Kindern.

Dann kann es sein, dass du ihr im Einkaufszentrum begegnest oder in der Kirche oder auf der Post und du grüsst sie etwas verlegen - sie hingegen möchte dich am liebsten umarmen.

Die Lehrerin erinnert sich für immer an die Gesichter der Kinder, auch wenn sie manchmal die Namen durcheinander bringt. Doch wenn sie aufzuzählen beginnt, bringt sie alle wieder zusammen: Alder, Baumann, Berger, Dorer ...

Wenn du erwachsen bist und nach den Dingen suchst, die du gelernt hast, sei es ein Gedicht, der Name eines Flusses, die Geschichte von Pippi Langstrumpf oder die Höhe des Mount Everest, brauchst du nur die Augen zu schliessen und du findest sie alle da, wo deine Lehrerin sie hingelegt hat: in Zweierreihe, die Kleinen zuvorderst, ohne zu schubsen.

Quelle: Spicchi di Limone / MG Serradimigni
Bild: Freedigitalphotos.com, olovedog